Griechenlands Geister

Interview mit S.V.E.O.D., einer Basisgewerkschaft für Kurier- und Lieferfahrer:innen aus Athen.

Geführt von Rüzgar Enns

Wolt, Flink, Lieferando, UberEats – wer kennt sie nicht, die Essenslieferdienste, die ihren Kund:innen große Versprechungen machen. Kurze Lieferzeiten, regelmäßige Sparangebote und 24-Stunden-Service. Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie ging der Boom um die Lieferdienste in deutschen Großstädten richtig los. Und damit auch der Kampf um die Marktherrschaft, der die ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen für viele Beschäftigte noch um weiteres verschärfte. Ausbleibende Löhne, mangelhafte Ausrüstung, Bezahlung nach Bonus-System, keine Versicherung – das ist die Realität für Angestellte dieser sogenannten Plattform-Unternehmen und führte in der Vergangenheit zu Streiks und Protesten unter den Fahrer:innen. Was in Deutschland seit ein paar Jahren zu erleben ist, ist in Griechenland bereits seit Jahrzehnten Wirklichkeit. Es handelt sich um einen Sektor, in dem Tausende, wenn nicht gar Zehntausende beschäftigt sind und der seit seiner Entstehung Schauplatz für die Aushöhlung von Arbeitsrechten ist.

Wir haben mit S.V.E.O.D., einer Basisgewerkschaft für Kurier- und Lieferfahrer:innen aus Athen, über ihre Tätigkeit als Gewerkschaft und den Arbeitsalltag der Fahrer:innen gesprochen.

Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage zur Situation von Kurierfahrer:innen in Griechenland. Der Beruf ist gefährlich, allein im Jahr 2021 gab es 33 tödliche Arbeitsunfälle. Unter welchen Bedingungen arbeitet ihr? Gibt es gesetzliche Arbeitsschutzmaßnahmen?

Die häufigste Bedingung für Kurierfahrer:innen in Griechenland ist unangemeldete Arbeit.

Wer nicht angemeldet ist, bekommt oft nur die Hälfte oder weniger des eigentlichen Lohns ausgezahlt, keine gesetzlichen Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit und keine Entschädigung für Benzinkosten. Auch wenn Arbeitgeber:innen laut Gesetz verpflichtet sind, Arbeitnehmer:innen Schutzausrüstungen wie Helme, Motorradjacken und wasserdichte Kleidung zur Verfügung zu stellen, tun sie dies in den meisten Fällen nicht. Die Fahrer:innen müssen selbst für ihre Sicherheit aufkommen. Gleichzeitig sind in den letzten Jahren vermehrt Plattform-Unternehmen aufgetaucht und damit haben sich Prinzipien wie die Abschaffung fester Stundenlöhne, Scheinselbstständigkeiten, die Aufhebung von Arbeitsrechten und das Fehlen von Versicherungsschutz etabliert. Das verursacht Existenzängste, Unsicherheiten und ein hohes Maß an Stress, wodurch es statistisch zu mehr Arbeitsunfällen auch mit Todesfolge kommt.

Ihr habt die Gewerkschaft 2007 gegründet. Was war der Anlass, eine eigene Gewerkschaft zu gründen?

Für unseren Berufsstand begann alles um 1990. Damals suchten Unternehmen nach Möglichkeiten, neue Kund:innen zu gewinnen. Anfangs waren es vor allem Steakhäuser, Pizzerien usw., die die Idee hatten, mit der kostenlosen Auslieferung des Essens zu werben. Wenig später entstanden Unternehmen, die professionelle Kurierdienste anboten und auch heute noch eine beträchtliche Anzahl von Arbeitnehmer:innen beschäftigen. Somit war ein neuer Berufszweig entstanden – ein riesiges Netz der Verteilung und Zustellung. Die Fahrer:innen waren wie Geister, die nirgendwo registriert wurden. Sie gehörten zu den ersten, die dem Prinzip nicht-angemeldeter Arbeit und flexibler Arbeitszeit zum Opfer fielen. Die prekären Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse führten unweigerlich zu berufsständischen Kämpfen von Beschäftigten großer Kurierdienstleister wie ACS oder Speedex. Diese neue Realität machte jedoch eine andere Art der Organisation erforderlich. Die Mehrheit der Beschäftigten sprach sich für die Gründung einer Gewerkschaft aus, die alle Motorradfahrer:innen einschließen sollte, unabhängig von den Produkten und Waren, die sie auslieferten oder den Unternehmen, für die sie arbeiteten. So begann eine mühsame, aber gleichzeitig konstruktive Zeit der Auseinandersetzungen, die in offenen, direktdemokratischen Versammlungen geführt wurden. Während dieses insgesamt achtmonatigen Prozesses wurden die Beschlüsse zur Gründung der ersten Basisgewerkschaft für Kurier- und Lieferfahrer:innen in allen Branchen und Wirtschaftszweigen gefasst, der „Basisgewerkschaftsversammlung für Fahrrad- und Motorradfahrer“ (S.V.E.O.D.).

Ihr habt seit eurer Gründung viele erfolgreiche Arbeitskämpfe geführt, Streiks organisiert und zu großen Demonstrationen mobilisiert. Dabei wendet ihr euch bewusst von den etablierten Gewerkschaften ab. Was ist der Kern eurer Kritik an den großen Gewerkschaften?

Unsere Gewerkschaft beteiligt sich an keinem Verband der zweiten oder dritten Ebene, weil wir als Basisgewerkschaft nicht bereit sind, Dritten unser Recht auf unabhängige Verhandlungen zuzugestehen. Die großen konföderalen Gewerkschaften agieren als Anhängsel der politischen Parteien und stellen den Willen des Staates und der Arbeitgeber nicht in Frage. Wir sind der Meinung, dass die Unterordnung des Klassenkampfes unter die Interessen und Bestrebungen der politischen Parteien entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Gewerkschaftsbewegung obsolet geworden ist, von den Arbeitnehmern verachtet wird und als Synonym für Betrug und Schmarotzertum gilt. Dies ist eine direkte Folge der vertikalen Funktionsweise, der Klassenwerte und -prinzipien, die umgangen werden, und der Funktionsstörungen der bürokratischen Strukturen. Dieses Modell vereitelt auch jede Anstrengung der Diskussion und des Dialogs mit unseren Arbeitskolleg:innen. Ihnen fehlt jede Verbindung zu den täglichen Arbeitsrealitäten der Arbeiter:innen.

Eure Gewerkschaft hat in den vergangenen Jahren Zulauf erfahren und stößt auch in der lokalen Bevölkerung auf viel Sympathie und Unterstützung. Gibt es auch Ortsgruppen außerhalb von Athen?

Seit unserer Gründung haben wir uns für Athen entschieden, wo sich der Hauptsitz der Gewerkschaft befindet. Jede Stadt oder Kleinstadt hat ihre Eigenheiten, aus denen sich jeweils eigene Bedürfnisse entwickeln. Wir wollen kein System der zentralen Kontrolle für Kolleg:innen an anderen Orten schaffen. Stattdessen treten wir in Dialog und Interaktion mit lokalen Organisationen und Bewegungen mit dem Ziel der kollektiven Meinungsbildung und des Aufbaus von Bündnissen und gemeinsamen Strukturen. Das Wort und der Widerhall der Gewerkschaft erreichte in den letzten Jahren über ihre korporativen Ziele hinaus weite Teile Griechenlands und verband so zu übergreifenden Klassenkämpfen. Zusätzlich wurden auch in anderen Städten Basisversammlungen und Basisgewerkschaften für Kurierfahrer:innen gegründet. Mit der Gewerkschaft SVEDI aus Ioannina arbeiten wir seit 2012 eng zusammen. In Rethymno ist seit 2022 die Gewerkschaft SVED IAR präsent. Beziehungen und Kontakte bestehen zu Kolleg:innen in den Städten Chania, Kavala, Larissa, während im Frühjahr 2023 die Gewerkschaft SVEODA in der Stadt Aegio und im Sommer 2023 die Gewerkschaft SODITAB in der Stadt Bolos gegründet wurden.

Erschienen im Oktober 2023, Zeitung des BDK „die proletin“, Ausgabe 04, Seite 6


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