Der Arbeitskampf beim Lieferdienst Gorillas, war in den vergangenen Jahren ein Meilenstein von Kämpfen der Klasse in Berlin. Wir haben ihn mit einer der Organisatorinnen, Duygu Kaya, Revue passieren lassen.
Das Interview führte Hans Holz.
Fangen wir mit Deiner persönlichen Geschichte an: Wann und wie bist Du Teil der Arbeitskämpfe bei dem Lieferdienst „Gorillas“ geworden?
Ich bin im Juni 2021 dazu gekommen. Davor hatte es bereits zwei Wellen von Streiks gegeben und direkt, als ich da anfing, hatten wir einen weiteren Streik. Die Forderungen waren immer die gleichen: Wir wollten unsere Bezahlung pünktlich und vollständig, Arbeitssicherheit und wir wollten wie Menschen behandelt werden. Lohnforderungen gab es auch, denn wir verdienten nur zehn Euro die Stunde.
Wir machten also eine Fahrraddemo von Warenlager zu Warenlager – Bergmannkiez, Neukölln, Kreuzberg, Friedrichshain. Einige andere Standorte schlossen sich an, ein paar nicht. Das war mäßig erfolgreich, aber es gab Erfolg auf einer anderen Ebene, der medialen. Es gab Aufmerksamkeit für diesen Kampf. Der Druck kam am Anfang eher von außen als von innen.
Danach gab es eine Zeit lang keine politische Aktion, aber es hatten die Vorbereitungen für einen Betriebsrat begonnen. Es gab keine Verbesserungen für uns seitens des Unternehmens, also blieben alle Forderungen bestehen. Im Rahmen des Betriebsratsprozesses gab es auch Kontakte mit Gewerkschaften, mit NGG und verdi. Allerdings wurde daraus leider nichts, denn die wollten die ganze Sache nur auf die eigenen Interessen hindrehen und hatten kein Gefühl für die Bedürfnisse der Arbeiter:innen. Die Zusammenarbeit mit ihnen führte einfach nirgendwo hin.
Am Ende des Sommers waren die Arbeitsbedingungen nicht besser geworden, im Gegenteil. Wir hatten ein neues Schichtsystem, das unsere Freizeit total zerstörte. Du konntest an einem Tag am Vormittag, dann am nächsten Mittags, dann wieder abends Schicht haben, es war völlig willkürlich. Die ganze Woche der Arbeiter:innen war zur freien Verfügung der Bosse. Man konnte nichts mehr planen – und man muss bedenken, dass sehr viele der Beschäftigten auch noch studiert haben. Dazu kam, dass die Praxis des Kündigens am Ende der Probezeit mehr und mehr zur Normalität wurde.
Dann feuerten sie einen Rider aus der indischen Community – angeblich wegen „schlechtem Verhalten“, was natürlich nicht stimmte. Das brachte die indischen Kolleg:innen sehr auf, sie empfanden es als Beleidigung. Was sollte das überhaupt heißen, „schlechtes Verhalten“? In Wahrheit ging es natürlich um keinerlei zu beanstandendes Verhalten, es ging einfach darum, die Leute vor dem Ende ihrer Probezeit loszuwerden.
Es gab also eine angespannte Situation in der Belegschaft und wir begannen im Rahmen des Gorillas Workers Collective in unserem Warenlager im Bergmannkiez zu diskutieren, was wir tun konnten. Wir entschieden uns für einen erneuten wilden Streik, nur eben diesmal besser vorbereitet. Wir hatten Komitees für verschiedene Arbeitsbereiche, wir informierten die Arbeiter:innen, ließen über den Streik abstimmen – ganz wie eine Gewerkschaft.
Und dann streikten wir ab dem 1. Oktober. Am 5. Oktober wurden wir alle gekündigt. Einige Arbeiter:innen wurden später wieder eingestellt, bzw. die Kündigungen wurden zurückgenommen. Andere wurden permanent entlassen. Das lag daran, dass sie einerseits den Streik brechen mussten, andererseits aber auf die Arbeitskraft der Beschäftigten angewiesen waren.
Sie brachen also den Streik. Damit fing für viele von uns aber ein anderer Kampf an. Einige klagten auf Wiedereinstellung. Andere – Ronnie, Fernando und ich – wollten in eine andere Richtung, wir gingen vor Gericht, um wilde und politische Streiks in Deutschland zu legalisieren. Wir argumentierten zusammen mit unserem Anwalt Benedikt Hopmann, dass es im Grundgesetz überhaupt keine Grundlage für die Illegalisierung von bestimmten Formen von Streiks gibt. Das Verbot von wilden und politischen Streiks geht allein auf ein Urteil des Richters Hans Carl Nipperdey von 1953 zurück, der zuvor auch das Arbeitsrecht der Nazis maßgeblich geprägt hatte.
Du hast die Arbeitsbedingungen bei Gorillas genannt. Wie waren die konkret? Was waren die entscheidenden Probleme?
Ich würde sagen, die Hauptforderung war Würde. Wir wollten würdevoll, wie menschliche Wesen behandelt werden, denn das Gegenteil war der Fall. Sie benutzten uns wie Objekte – etwa in diesem Schichtsystem, das keinerlei Respekt für die Verfügung über unsere eigene Zeit hatte. Sie gaben uns zu verstehen: Euer Privatleben ist egal, ihr seid ganz und gar in unserer Verfügung.
Zu den schriftlich zusammengefassten Forderungen zählte die nach pünktlicher und voller Bezahlung. Das Bezahlsystem war lächerlich. Es gab Monate, da bekamen Rider 9 Cent Lohn ausgezahlt. Oder man hatte eigentlich 1500 verdient und bekam nur 600. Das passierte ständig und dann musste man seinem Geld hinterherlaufen. Das betraf mal die eine, mal die andere Person, aber insgesamt hatte es System, es war systematischer Lohnraub.
Drittens wollten wir ein Ende der Kündigungen vor Ablauf der Probezeit. Die waren ja Absicht, sie wollten vermeiden, dass den Arbeiter:innen dann mehr Rechte, etwa Kündigungsschutz, zukamen. Also kündigten sie, bevor die Probezeit ablief.
Die vierte Forderung betraf dieses schreckliche Schichtsystem. Und die letzte bezog sich auf die Bezahlung. Wir wollten 12 Euro die Stunde, also zwei Euro mehr als wir bekamen. Dazu ein besseres Trinkgeldsystem und Boni. Wir forderten da nichts ausgedachtes, wir orientierten uns durchaus an anderen Firmen, wo das schon Standard war.
Die Arbeiter waren mehrheitlich migrantisch …
98 Prozent würde ich sagen.
Wie habt ihr es also beim Organisieren des Streiks geschaftt, die unterschiedlichen Communities zusammenzubringen?
Wir hatten einen Vorteil anderen Lieferunternehmen gegenüber, denn wir hatten mit den Warenlagern Knotenpunkte, wo die Arbeiter:innen sich trafen. Das ist zum Beispiel bei Restaurantlieferdiensten weniger der Fall. Aber bei Gorillas hatten wir Arbeiter:innen in den Lagern die Möglichkeit, uns zu unterhalten und kennenzulernen.
Wir haben natürlich auch gesehen, dass es bei den Arbeiter:innen entlang verschiedener Herkunft zu Gruppierungen kam. Man hing eben mit denen rum, mit denen man etwas gemeinsam hatte. Wir merkten, dass es wichtig war, die Gruppen in ihren Sprachen agitieren zu können, wir teilten uns also auf: ein spanischsprachiger Kollege übernahm die Kolleg:innen aus Lateinamerika, ein indischer die indische Community und ich den Teil, den wir „rest of the world“ nannten.
Wir gingen zu allen Kolleg:innen hin, sprachen mit ihnen über die Arbeitsbedingungen, über die Kündigungen, das Schichtsystem – alle Probleme. Wir machten kleine whatsapp-Gruppen auf, die wir dann zu einer großen fusionierten. Wir hatten Komitees für die Verhandlungen, ein Pressekomitee und so weiter.
Also wie eine Gewerkschaft, aber demokratischer …
Die Basis war der Konsens der Arbeiter:innen. In unserem Lager waren nur zwei, drei nicht aktiv dabei, aber auch die sagten: Macht euer Ding.
Du hast bereits verdi und NGG, zwei der DGB-Gewerkschaften, erwähnt. Wie würdest du ihre Rolle im Großen und Ganzen beschreiben? Gab es auch positive Aspekte ihrer Anwesenheit?
Als es mehr Kontakt zu ihnen gab, war ich persönlich nicht dabei. Was ich von Kolleg:innen gehört habe, ist dass es ihnen vor allem darum ging, überall ihren Namen draufzuschreiben und ihre Broschüren loszuwerden. Sie hatten kein wirkliches Interesse an unseren Arbeitsbedingungen.
Ich hatte wie gesagt wenig mit denen zu tun, das war die Kritik, die das Kollektiv hatte. Ich habe während des Streiks im Bergmannkiez einmal eine Gruppe von der Gewerkschaft getroffen. Eine von ihnen fragte mich nach meiner Nummer. Sie meinte, sie würde anrufen, ob wir etwas brauchen, Getränke, Unterstützung, Anwälte. Aber niemand hat je angerufen. Wir haben ja zum Beispiel Essen und so von Unterstützer:innen erhalten – aber eben nicht von der Gewerkschaft. Ich dachte immer, dass ist das, was eine Gewerkschaft tut, wenn Arbeiter:innen streiken: Vorbeikommen, Versorgung bringen, diskutieren, vielleicht Musik. Aber hierzulande wohl nicht. Sie verhalten sich hier wie so ein Business-Vertreter, geben dir eine Visitenkarte und gehen.
Habt ihr jetzt, in der rechtlichen Auseinandersetzung um die Legalisierung von wilden und politischen Streiks Unterstützung aus der Gewerkschaft?
Wir haben Arbeitsgruppen, in denen auch Gewerkschafter:innen sind – aber keine hochrangigen Funktionär:innen oder Vorstände. Offizielle Unterstützung einer Gewerkschaft für das Thema haben wir nicht.
Abschließend vielleicht die Frage: Den Bossen ist es gelungen, den Streik zu brechen. Würdest du dennoch sagen, er hatte etwas Bleibendes, eine fortdauernde Wirkung?
Der große Sieg, der errungen wurde, liegt im Bewusstsein der Arbeiter:innen. Als wir in den Streik traten, wussten wir, es würde nicht so einfach werden, unsere Forderungen zu erzwingen. Und wir kannten das Risiko. Aber wenn du einen Scheissjob hast, ist die gute Sache: Du kannst jederzeit wieder einen Scheissjob finden. Für die, deren Visa an den Job gebunden waren, war das sicherlich anders und schwieriger, aber für viele war es auch so: wir hatten nichts zu verlieren.
Insgesamt habe ich aber von keinem einzigen gehört, dass es ein Fehler oder eine Niederlage gewesen wäre. Denn, was wir in diesen fünf Tagen des wilden Streiks erreicht haben, war ein Grad der Politisierung, der sonst nie möglich gewesen wäre. Es ist die Stimmung, die Solidarität untereinander, das Gefühl der eigenen Macht – denn du fährst das Geschäft der Bosse herunter. Das hat uns ein bisschen unserer Kraft zurückgegeben. Und am Ende kämpften wir für unsere Würde. Der Streik gab uns unsere Würde wieder.
Erschienen im Oktober 2023, Zeitung des BDK „die proletin“, Ausgabe 04, Seite 3